Als Georges Simenon in seine Heimatstadt Lüttich kommt, um seine neunzigjährige Mutter während ihrer letzten Tage zu begleiten, richten sich im Krankenhauszimmer zwei Augen von verwaschenem Grau auf ihn. "Warum bist du gekommen, Georges?" So beginnt ein letztes, regloses Duell zwischen Mutter und Sohn. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen war das Leben der Mutter geprägt von Entbehrungen und Enttäuschungen, von unbedingtem Aufstiegswillen, von Sorgen um ihr Auskommen und ihre Außenwirkung. Das Verhältnis zu ihren zwei Ehemännern war kühl, den Ruhm des Sohnes wusste sie nicht zu würdigen. Nie war er gut genug. Haben sie einander je verstanden, haben sie sich je geliebt? Drei Jahre nach ihrem Tod schrieb Simenon seiner Mutter einen Brief. Es ist sein wohl bedeutendster autobiographischer Text, ein schmales Buch von gewaltiger Wirkung.
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisc hes Ansehen. Simenon wurde von Kritiker_innen und Schriftstellerkolleg_innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos. Melanie Walz, geboren 1953, hat u.a. Jane Austen, Honoré de Balzac, A. S. Byatt, Charles Dickens und Virginia Woolf übersetzt und wurde vielfach ausgezeichnet. Für ihre Neuübersetzung von George Eliots Middlemarch wurde sie 2020 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
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