»Walther von der Vogelweide«, schreibt der Germanist Hans Kühn, »ist unter jedem Maßstab einer der größten Dichter deutscher Zunge.« Unter den Dichtern der mittelhochdeutschen Blütezeit rage er »an Sprachgewalt, an Eigenart, an Leidenschaft hervor wie Shakespeare unter den elisabethanischen Dramatikern«.
Der Fischer Taschenbuch Verlag legt hier in erweiterter Fassung erneut eine Auswahl vor, die nahezu die Hälfte des Waltherschen Werkes umfaßt. Über die erste Auflage schrieb Hans Kühn in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG in einer der längsten Besprechungen, die je einem Taschenbuch gewidmet wurde: »Mittelalterliche Texte selbst zu Wort kommen zu lassen, sie dem Leser voll zu erschließen und doch nicht immer gleich mit dem Zeigefinger des Lehrers oder Gelehrten dazwischenzufahren, das braucht Takt, Klugheit und Bescheidenheit. Peter Wapnewski, Professor an der Universität Heidelberg, hat diese Aufgabe für eine Auswahl von Walthers Gedichten ... in vorbildlicher Weise gelöst. Wapnewski.. . hat die Ausgabe so angelegt, daß sie einem Leser ohne Vorkenntnisse zu einem guten Verständnis von Walthers Dichtung verhilft und trotzdem auch dem Studenten der Germanistik viele wertvolle Hinweise gibt.«
Walther von der Vogelweide, um 1170 - um 1230. Nach eigener Angabe lernte W. in Österreich singen unde sagen. Über Geburtsort und Stand gibt es keine sicheren Angaben; ungeklärt ist, ob sein Beiname Herkunfts- oder Künstlername ist. Bis 1198 war er dem Hof des Babenberger Herzogs Friedrich I. in Wien verbunden; nach dem Tod seines Gönners verließ er Wien und hielt sich - wie sich aus seiner Sangspruchdichtung schließen lässt - an den Höfen des Stauferkönigs Philipp (1198- 1201) und des Welfen Otto IV. (1212/13) sowie im Umkreis Kaiser Friedrichs II. (ab etwa 1213), dem er in einem Spruch um 1220 für ein Lehen dankte, und verschiedener Fürsten- und Adelshöfe (z. B. bei Hermann v. Thüringen) auf. Der einzige sichere außerliterarische Beleg zeigt ihn in der Umgebung des Bischofs von Passau, Wolfger v. Erla, der Walthero cantori de Vogelweide am 12. 11. 1203 bei Zeiselmauer (in der Nähe Wiens) fünf große Schillinge für einen Pelzrock auszahlte. Nach einer Notiz in einer Handschrift de s 14. Jh.s soll W. im Kreuzgang des Würzburger Stifts Neumünster begraben sein. W. war bereits im Mittelalter als größter dt. Minnesänger und Sangspruchdichter anerkannt. Er führte die Spruchdichtung an das formale Niveau des Minnesangs heran, erweiterte das traditionelle moralisch-didaktische Themenspektrum und machte dabei die Spruchdichtung zu einem Medium der Diskussion aktueller politischer Fragen und der grundsätzlichen politischen Orientierung (z. B. in den 'Reichstonsprüchen ') sowie z. T. ätzender politischer (z. B. antipäpstlicher) wie persönlicher Polemik und Satire. Als Minnesänger begann er - etwa um 1190 - im Stil Reinmars und der Hohen Minne; er löste sich jedoch bald von dieser Konzeption - sichtbar etwa in der so genannten 'Walther-Reinmar-Fehde' - und erprobte Auswege aus den stereotyp gewordenen Situationen der klagenden Minne. Er setzte dem Konzept der einseitigen Liebe (und dem ästhetisierenden Leiden Reinmars) die Forderung nach (möglicher) Gegenseitigkeit de r Liebe entgegen, wobei die Skala von Liedern mit Anklängen an die Pastourelle und ihrer Darstellung der Liebe zu einer sozial nicht ausgezeichneten Frau in einer idyllischen Natur bis zu Liedern der eine 'Herrin' verehrenden 'Hohen Minne' reicht. Darüber hinaus gibt es differenzierende Lieder, die in der höfischen Sphäre bleiben, doch den Begriff Frau (wîp) über den Standesbegriff Herrin (frouwe) stellen und ein liebendes Entgegenkommen möglich erscheinen lassen. Eine 'Entwicklung' wird man trotz der verschiedenen Akzentuierung des Liebesthemas kaum annehmen können. Neben den Liebesliedern stehen Klagen über den Verfall rechter höfischer Kunst und Lieder mit religiöser Thematik, die v. a. dem Spätwerk angehören, darunter ein streng sakraler Marienleich, Lieder mit Kreuzzugsmotiven, Lieder des Rückblicks, Gedichte der Weltabsage.
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