Verlag | Sonderzahl |
Auflage | 2021 |
Seiten | 234 |
Format | 13,5 x 1,8 x 21,2 cm |
Gewicht | 321 g |
ISBN-10 | 3854495900 |
ISBN-13 | 9783854495901 |
Bestell-Nr | 85449590A |
Für die Geschichtswissenschaft (auch oder gerade dort, wo sie mit der Methode der Oral History arbeitet) sind Zweifel an Methoden und Kritik von Quellen unerlässlich. Dass jede Geschichtsdarstellung fiktionale Elemente enthält, muss ständig bedacht werden. Wenn nun die Belletristik historisches Material benutzt, um historische Stoffe zum Leben zu erwecken, sollte mit ähnlicher Gewissenhaftigkeit ans Werk gegangen werden.Die Schriftstellerin Sabine Scholl geht in ihrem Essay der Frage, wie sich Geschichte schreiben lässt, akribisch nach und analysiert anhand von 13 literarischen Beispielen, wie dies tatsächlich gelingen kann. Kunst und Erinnerung werden einander dort gerecht, wo ästhetische Fragen und ethische Vorbehalte formbewusst miteinander verschränkt werden.Historische Zusammenhänge werden in Texten fiktional hergestellt. Autor_innen sollten sich sowohl der emotionalen Effekte, die ihre Arbeit auslöst, bewusst sein - wie auch der Emotionen, die beim Schreiben selbst entstehen und wirksam sind. Erzählen bedeutet in diesem Sinne, Dokumente und Berichte zusammenzutragen und nachzuerzählen, gleichzeitig aber die Lückenhaftigkeit und Fiktionalität des Erzählverfahrens zu reflektieren.Sabine Scholls Essay basiert auf Gesprächen, die mit den Autor_innen der behandelten Beispiele geführt wurden. Er liefert Einsichten in diese erprobten Schreibweisen und führt eine Typologie von literarisch gelungen erzählter Geschichte vor. Zugleich versammelt Scholl die grundsätzlichen Fragen, mit denen jedes erinnernde Schreiben sich auseinandergesetzt haben sollte, als Kompendium für Autor_innen. Scholls Text ist dabei mehr als eine Gebrauchsanweisung, er öffnet Fenster, wird selbst zu einem Stück Literatur.
Leseprobe:
Wuchernde Zweige, Blätter und Blüten formen eine dichte Laube am Balkon. In diesem grünen Schatten sitze ich mit zwei Nachbarinnen. Eine stammt zufällig aus derselben Stadt wie ich. Es dauert nicht lang, und wir zählen Name für Name die Honoratioren auf, welche dort während der Nazi-Zeit profitierten und die danach als achtbare Bürger angesehen wurden. Als Schulkinder wussten wir nichts über deren Vergangenheit, wir erlebten vor allem gesammeltes Schweigen, das es erschwerte, Beziehungen zwischen den Generationen aufzunehmen. Ständig mussten wir Leerstellen umschiffen, bis wir vergaßen, dass sie überhaupt existierten. Indem wir mitmachten, weil die Eltern und Großeltern das von uns verlangten, wurden wir Komplizinnen. Daraus entstand die GROSSE AUSLASSUNG. Und in den Körpern lagerte sich Ungesagtes ab, arbeitete weiter, grub sich tief ein. Wir wurden imprägniert. Heute fühlen wir uns immer noch betrogen und deshalb regen wir uns auf. Weil es so lange dauerte. Weil auf Hinweistafel n, welche von Gebäuden und Menschen erzählen, jene dunklen Zeiten oft ausgespart bleiben. Als wären das persönliche Beleidigungen, wenn ein historisches Dokument bezeugt, dass der Apotheker, der Bäcker und andere, die ohnehin längst gestorben sind, tätige Nazis waren. Diese Angaben unterstellen, es wäre ohnehin damals nichts passiert. Was beweist, dass die Strategie der Täter funktionierte. Die Verbindungen des Gegenwärtigen mit den historischen Geschehnissen wurden gekappt, die Erinnerung an die aus der Gesellschaft ausgesonderten und ermordeten Menschen gelöscht. Für die Nachkommenden fühlt es sich nun an, als hätte es jene nie gegeben. Eine verharmloste Erinnerung an die Täter wird jedoch bis heute aufrechterhalten. Täter haben deutliche Spuren hinterlassen, Spuren, die ihre Untaten fälschlich, weil beschönigend darstellen, sie als Notwendigkeiten und unabwendbare Bestimmung eines sogenannten Schicksals definieren. Jegliche Geschichtsschreibung, wenn sie sich denn überhaupt mit belasteter Vergangenheit beschäftigt, ist von der Absicht der Täter, ein sauberes Image zu hinterlassen, geprägt.