Verlag | Sonderzahl |
Auflage | 2024 |
Seiten | 144 |
Format | 13,0 x 1,0 x 20,0 cm |
Büttenbroschur. | |
Gewicht | 150 g |
Reihe | Stefan-Zweig-Poetikvorlesungen 10 |
ISBN-10 | 3854496540 |
ISBN-13 | 9783854496540 |
Bestell-Nr | 85449654A |
In ihrer Poetikvorlesung reflektiert Anna Kim ausgehend von ihren Romanen Anatomie einer Nacht, Die große Heimkehr und Geschichte eines Kindes das Verhältnis der Literatur zur Wahrheit. Was diese drei Romane gemeinsam haben, ist, dass sie von wahren Begebenheiten ausgehen: Der Suizid eines achtjährigen Buben in Ostgrönland stand am Anfang von Anatomie einer Nacht, das nie aufgeklärte Verschwinden einer japanisch-koreanischen Jugendlichen aus ihrer Heimatstadt Kobe 1961 am Anfang von Die große Heimkehr. Ohne die Adoptionsakte des »wahren « Danny Truttmann hätte es Geschichte eines Kindes nie gegeben.Im ersten Abschnitt Fahnden bildet die Frage der Recherche den Ausgangspunkt: Inwiefern sich literarische Recherche von wissenschaftlicher oder journalistischer Nachforschung unterscheidet, wie man Quellen identifiziert, an welche Grenzen man bei der Recherche stoßen kann, und wann bzw. warum sie sich entschlossen hat, diese Grenzen zu überschreiten. Im zweiten Abschnitt Stricken behand elt Anna Kim - ausgehend von den Grenzüberschreitungen des ersten Teils - das Einarbeiten von Fakten in das fiktive Gewebe eines Romans, wie Inhalte strukturiert und komponiert, Fakten im literarischen Prozess zusammengestellt und überblendet, vermischt und fiktionalisiert werden. Abschließend nimmt sie unter dem Titel Balancieren die Frage nach der künstlerischen Freiheit und Verantwortung in den Blick: Wie kann, soll man mit historischen Dokumenten umgehen? Wie ist mit historischem Vokabular, das heutzutage außerordentlich verletzend ist, zu verfahren?
Die Vorlesung wurde für die Buchfassung um zwei Essays - die Texte Unsere Schule sowie Farbe bekennen - ergänzt.
Leseprobe:
»... eigentlich lehne ich es ab, für mein Werk, mein Schreiben, eine Theorie zu finden, es unter einer Poetik zu subsumieren. [...] Die künstlerische Betätigung ist ein Grundbedürfnis, weil sie es uns erlaubt, unsere Grenzen zu überschreiten. Sie ist ein Ausdruck unseres Bedürfnisses von Freiheit, zugleich ist sie ein Ausdruck unserer Freiheit: ihre Manifestation. Wir können sie nicht aufgeben, wir dürfen sie nicht aufgeben, auch wenn es - natürlich - Grenzen gibt. Das Wesen der Kunst ist Freiheit. Oder anders gesagt: Kunst ist ein, womöglich sogar der Ausdruck von Freiheit.Der andere Grund, weshalb ich es vorziehe, mein Schreiben nicht zu analysieren, ist der, dass Leser:innen in meinem Verständnis von Literatur eine wesentliche Rolle spielen: nämlich nicht bloß die der Aufnehmenden, der Zuhörenden. Eine Leserin, ein Leser, ist für mich kein Gefäß, das ich mit Geschichten oder, ganz allgemein, Inhalten fülle, ich möchte einen aktiven Leser, einen, der bereit ist, mitzudenken, mit zuzweifeln, im Idealfall mitzuschaffen: Ich erwarte einen kreativen, einen schöpferischen Leser. Bücher im Allgemeinen, Romane im Besonderen entstehen in den Köpfen der Leser:innen. Ihre Vorstellungskraft anzukurbeln, anzustoßen, ist mein Ziel als Autorin, denn ich möchte in einen Dialog treten. Ein Roman ist im Grunde ein langes, ausführliches Gespräch, bei dem ich zwar die Gesprächsleitung innehabe, aber wie das Gespräch in seiner Gänze aussieht, hängt auch von den Leser:innen ab, nicht bloß von mir. Deshalb bemühe ich mich um eine möglichst offene, undogmatische, nicht elitäre, sondern egalitäre Literatur - wenn Gleichheit nicht in der Literatur möglich ist, wo dann?«