Verlag | Wunderhorn |
Auflage | 2023 |
Seiten | 260 |
Format | 13,5 x 2,5 x 21,0 cm |
Gewicht | 351 g |
ISBN-10 | 3884236970 |
ISBN-13 | 9783884236970 |
Bestell-Nr | 88423697A |
1929 veröffentlichte der jiddisch-sowjetische Schriftsteller Der Nister seine letzte Sammlung symbolistischer Erzählungen, Fun mayne Giter (Von meinen Besitztümern), die zwischen 1923 und 1929 geschrieben wurden, in einer der kritischsten und instabilsten Perioden sowohl in Westeuropa als auch in der neu gegründeten Sowjetunion. Kurz danach wurde er wegen seines idiosynkratischen, symbolistischen Stils von sowjetischen Literaturkritikern scharf angegriffen, und ihm wurde für ein Jahrzehnt jede Veröffentlichungsmöglichkeit verwehrt.Das Aufeinanderprallen seiner elitären, beinahe religiösen Auffassung von Literatur mit der alltäglichen, rauen Realität des Literaturmarktes in der jungen Sowjetunion, zeichnet das Schaffen Des Nisters in den 1920iger Jahren aus. Im Mittelpunkt seiner damals heftig kritisierten Erzählung »Unterm Zaun« setzt er sich u.a. mit diesem Thema auseinander. Nisters Erzählung »Von meinen Besitztümern« wiederum ist die Auseinandersetzung mit einer gewalttätigen, unausweichbaren Macht, die das Individuum bedroht und ihm seine nackte Existenz abspricht, und somit eine erschütternde und nicht allzu verschlüsselte Anklage gegen den sowjetischen Staat. Doch finden sich auch unerwartete Themen in dieser Sammlung von Erzählungen, wie z.B. die leichtfüßige, märchenhafte Stimmung in der »Geschichte vom Grünen Mann«, die die emphatische Sensibilität des Autors für die Natur und ihre Kreaturen offenbart. Eine andere Erzählung ist eine furiose Groteske, in der der Autor mit einer Prise scharfen Humors Vorurteile gegenüber Minderheiten entkräftet. Zum ersten Mal aus dem Jiddischen übersetzt, stellt Von meinen Besitztümern einen Höhepunkt im literarischen Schaffen des Nisters, der zweifellos einer der großen Protagonisten der jiddisch-russischen modernen Literatur ist, dar. Sein eigenartiger Stil bündelt archaische Formen der jüdischen literarischen Tradition mit den hypnotischen Rythmen der Russischen Symbolisten und einer kafkaesken Modernität.
Leseprobe:
»Woher das geflogen kam, ich weiß es nicht - aber plötzlich spürte ich mitten auf meiner Stirn einen feuchten Batzen Lehm. Wer konnte das gewesen sein? Ich schaute mich um. Wer hatte das geworfen? Ich sah niemanden und als ich schnell mit der Hand den Lehm abwischte, bemerkte ich: es war eine Münze! Und weil ich mich schon so lange Zeit ziellos herumgetrieben hatte, nichts gegessen und keine rechte Bleibe gehabt hatte, wollte ich mir jetzt etwas Gutes gönnen. Ich ging in ein feines Restaurant und aß mich satt, und nachdem ich gesättigt war, ging ich mit dem Restgeld in der Tasche noch ein wenig spazieren. Und weil der Tag so schön gewesen war und nichts mein Herz bedrückte, schlenderte ich am schönen Park der Stadt vorbei. Dort waren Buden und Zelte aufgebaut, in denen Bücher verkauft wurden, und viele Menschen, Erwachsene und auch Kinder kauften ein, denn im ganzen Land war die »Woche des billigen Buches« ausgerufen worden. In den Buden wurden Bücher verlost und jedes Los, so sta nd dort, sei ein Gewinn! So stellte auch ich mich an und wagte ein Los zu ziehen. Als der Verkäufer der Bude das Los auseinandergewickelt hatte, händigte er mir ein Büchlein aus:Autor: Der NisterTitel: Schriften eines Irren.Auch ein Bild war auf dem Titelblatt: ein blasser Verrückter stand dort in einem langen Anstaltshemd. Ich blätterte um, und das Buch begann so:Der Nister beklagte sich, denn er hatte zehn Bären als Kostgänger. Die Bären fraßen ihm die letzten Haare vom Kopf und machten ihn bettelarm. Und als er schon gar nichts mehr hatte, keinen roten Heller mehr, und selbst schon herumgehen musste, um zu betteln, da ließen sie dennoch nicht von ihm ab.«