Geschichte einer Flucht - Durch Ostpreußen nach Nordjütland 1945
Verlag | Edition Forsbach |
Auflage | 2022 |
Seiten | 232 |
Format | 14,8 x 21 x 1,1 cm |
Gewicht | 307 g |
Reihe | Leben ist Mee(h)r |
ISBN-10 | 3943134814 |
ISBN-13 | 9783943134810 |
Bestell-Nr | 94313481A |
Im Januar 1945 flüchtete Lore Ehrich mit ihren beiden Söhnen Axel (5 Jahre) und Olaf (2 Jahre) und ihren Eltern aus Sensburg/Ostpreußen vor den herannahenden Russen mit unbekanntem Ziel in Richtung Westen. Schon bald musste sie die Eltern krankheitsbedingt zurücklassen.Nur mit dem Notdürftigsten an Kleidung und Lebensmitteln versehen, zwang sie die Kriegssituation auf den einzigen noch freien Fluchtweg über das Frische Haff nach Danzig und weiter nach Gotenhafen, von wo aus sie mit dem Schiff "Hector" nach Dänemark übersetzen konnte.Bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland im Frühjahr 1947 lebte sie mit ihren Kindern in verschiedenen Lagern an unterschiedlichen Orten in Nordjütland.Während eines Krankenhausaufenthalts in Aalborg im Mai 1945 hat Lore Ehrich ihre Schilderung der Flucht von einer Bürokraft mit Schreibmaschine auf Butterbrotpapier abtippen lassen.70 Jahre später, acht Jahre nach ihrem Tod, entschloss sich ihr Sohn Dr. Olaf Ehrich, das Manuskript zu veröffentlichen. Die damaligen Geschehnisse sind gerade heute wieder aktuell, weil sie deutlich machen, wie wichtig damals wie heute Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft sind, um Not und Ängste der unzähligen Flüchtlinge zu lindern. Die Schilderung ist authentisch, bis heute sind keinerlei Veränderungen in Form von Umschreibungen, nachträglichen Bewertungen oder Kommentierungen vorgenommen worden.
Leseprobe:
Nun haben wir Lore Ehrichs Buch bekommen, und ich habe es in einem Zug gelesen und bin tief beeindruckt. In einem Zug - nicht, weil es spannend wäre, das ist es nämlich nicht. Wenn man Vor- und Nachwort, biographische Notizen oder auch nur die Cover-Rückseite gelesen hat, dann weiß man ja, "wie es ausgeht". Nein, es ist nicht spannend, es ist packend und zunächst erschütternd - und dann zum Ende hin immer mehr faszinierend. Erschütternd ist es zu lesen, mit welcher Gewalt das Schicksal die junge Mutter überrollt, die diesem Schicksal zunächst nicht viel mehr entgegenzusetzen hat, als stumm auszuhalten. Wie oft wünscht sie sich, dass eine Bombe allem ein Ende machen möge - und man wünscht es sich mit ihr, wenn ein Weiterlesen kaum auszuhalten ist. Dann aber wird eine Linie des Buches immer bestimmender, die allerdings schon von Anfang an angelegt ist, nämlich die Beschreibung, wie die junge Frau trotz des Elends, welches man ja selbst als Leser kaum aushalten kann, ihr Schicksal annimmt, und zwar in einem unerschütterlichen Gottvertrauen. Dies ist es, was das Buch faszinierend macht, diese Entwicklung einer namenlosen Person, die gefangen ist in einer Schicksalsgemeinschaft unendlich vieler anderer, gleich ihr namenloser Personen, zu einer Persönlichkeit, zu der man aufblicken möchte. (Dass sie auf dem Weg dazu Nietzsche mit seinem "Amor Fati" zitiert, verstört zunächst, bis man merkt, dass es an der transzendentalen Grundlinie nichts ändert.)So führt das Buch vom tiefsten Dunkel ins Licht, nicht in ein strahlendes Licht, das der Leser nach der Vorgeschichte als grell empfinden müsste, sondern in ein warmes, freundliches Licht, ausgestrahlt von angenommenem, bewältigten Leid anstelle dumpfer, dunkler, anklagender Verzweiflung.Auch auf einer tieferen Ebene ist Lore Ehrichs Buch ein wertvolles Buch, nämlich wegen seiner unerreichbaren Authentizität, seiner Echtheit, Ursprünglichkeit. Als Historiker, den es weniger dazu drängt, das Leben zu gestalten, als es zu betrachten und seine Erscheinungsformen einzuordnen und zu bewerten, haben mich Biographien und besonders Autobiographien von jeher angesprochen. Ich habe sehr viel gelesen - aber immer waren es Rückblicke - begreiflicherweise. Ein Buch wie das von Lore Ehrich, ohne zeitlichen Abstand aus dem Erleben heraus geschrieben, ohne auch nur die geringste Vorstellung davon, wie das Leben weitergeht, wie die allernächste Zukunft aussehen wird - ein solches Buch ist zwangsläufig von ganz anderer Art. Lore Ehrich schreibt nicht aus einer Rückschau, einer Erinnerung. Es gibt in ihren fiktiven Briefen an die Mutter keine Distanz zu dem eben Erlebten, und diese "Distanzlosigkeit" überträgt sich auf den Leser - er liest nicht die Geschichte der Autorin, er erlebt sie.Dr. Joachim Heyder