Verlag | Nova MD |
Auflage | 2023 |
Seiten | 362 |
Format | 15,0 x 2,9 x 21,0 cm |
Gewicht | 468 g |
ISBN-10 | 3985955549 |
ISBN-13 | 9783985955541 |
Bestell-Nr | 98595554A |
Bei einer Recherche im Schularchiv findet Sasha eine Skizze von sich selbst - seltsam genug, doch das Dokument ist über einhundertsiebzig Jahre alt! Bald stößt sie auf eine Verbindung zwischen sich und der Urheberin. Und auf eine Gefahr, vor der sie gewarnt werden muss.Am selben Ort, doch lange Zeit zuvor, schlägt sich die scharfsinnige Annie 1851 im Armenviertel Londons durch. Als falsche Hellseherin täuscht sie ihre Kundschaft, bis sie tatsächlich eine Vision hat und an der Seite eines unerfahrenen Constables in die Ermittlungen um eine Mordserie hineingezogen wird.Getrennt durch viele Jahrzehnte, scheinen die Leben von Sasha und Annie nichts miteinander zu tun zu haben. Doch als sich ihre Schicksale kreuzen, setzt die Begegnung etwas Düsteres in Gang. Uralte Rätsel, die sich um entführte Mädchen, ein gestohlenes Pendel und die Geschehnisse der Bonfire Night ranken, werfen ihre Schatten auf die Welt. Heute wie damals.
Leseprobe:
Annies Augen waren an den Schleier gewöhnt. Durch den Stoff vor ihrem Gesicht sah sie zu, wie der Londoner Nebel gelblich wabernd durch die Luke kroch. Er war heute besonders schwer und glitt an der mit Tüchern behangenen Wand herunter, um sich in der Kammer der Wahrsagerin Madame Gwendolyn mit dem Dunst von nebenan zu vermischen.Der Qualm, der durch den Türspalt aus Odettes Opiumkeller hierher strömte, war klebrig und süß. Er ließ Annies Schläfen pochen und ihren Magen flau werden, verursachte einen tauben Geschmack auf ihrer Zunge. Sie hasste das Zeug.Der Nebel von draußen hingegen triefte vor den Ausdünstungen Whitechapels - er stank nach Fäkalien und Fäulnis, trug den Verwesungsgeruch des Fleischmarktes und die beißenden Dämpfe der Gerbereien mit sich. Doch er klärte ihren Kopf und weckte die vom Drogendunst getrübten Sinne. Annie beobachtete schlammverkrustete Stiefel, die eilig am Fenster über ihr vorbei stapften. Kaum jemand verbrachte mehr Zeit als nötig in der Dorset Stre et, der schlimmsten Straße Londons, wie man sagte. Erst recht nicht kurz vor Einbruch der Dunkelheit.Ein tonloses Seufzen entwich ihr. Es würde wohl niemand mehr kommen. Zeit heimzugehen. Sie hob den Schleier ein Stück an und beugte sich über die Kerze, die vor ihr auf dem Tischlein flackerte.Heute war ein jämmerlicher Tag gewesen. Insgesamt hatte sie kaum mehr als einen Sixpence verdient und davon musste sie das meiste an Odette abtreten. Die Schreckschraube erhöhte beinahe täglich die Zinsen auf Annies Schulden.Es klopfte.Sie hielt den Atem an und schaute hoch zum Ausstieg, der auf die Straße führte. Kundschaft?Ein weiteres Pochen. Es war harsch und ungeduldig.Annie wusste nun, mit wem sie es zu tun hatte.Sie ließ ihren Schleier sinken und die Kerze weiterbrennen, erhob sich mit einem theatralischen Stöhnen und humpelte - um sich auf ihre Rolle einzustimmen - unter Ächzen und kratzigem Gemurmel die Stufen zur Tür hoch. Diese hatte sie, wie es jede vernünftige Person getan hätte, mit mehreren Riegeln verrammelt.Nachdem sie einen prüfenden Blick durch das Guckloch geworfen hatte, brauchte es eine Weile, bis die Scharniere gequält jaulten und die Tür zur Straße hin aufschwang."Madame Gwendolyn. So beeilen Sie sich doch", hörte sie eine vertraute Stimme brummen. Die Worte klangen rau und herb, nach kaltem Zigarrenrauch. "Hier draußen stinkt es wie in einer Senkgrube."Ein Grinsen umspielte Annies Mundwinkel, als sie den wohlgekleideten Gentleman im Schlamm der Dorset Street stehen sah. "Bursche", krächzte sie. "Stell dich nicht an wie einer, der mit 'nem Silberlöffel im Maul geboren wurde."Es verschaffte ihr eine diebische Freude, auf diese Weise mit Inspector Turner zu reden. Annie war die einzige Person in ganz London, die sich das erlauben konnte."Darf ich reinkommen?", raunte er. "Die Leute starren mich an.""Was kreuzt du hier auch in Frack und Zylinder auf, gekleidet wie'n feiner Pinkel! Haste vergessen, wo du herkommst?"Es war allgemein bekannt, dass Th eodore Turner sich aus ärmlichsten Verhältnissen in den Polizeidienst hochgekämpft hatte. Annie brachte ihm dafür eine gehörige Portion Respekt entgegen, doch er selbst wurde nicht gern daran erinnert. Ein Glanz der Bitterkeit huschte über seine Augen, als er sich an ihr vorbeischob und die Treppe herunter humpelte.Der polierte Gehstock verursachte ein dumpfes Geräusch auf dem Lehmboden. Das Bein schien ihm heute zu schaffen zu machen."Hab dich früher erwartet", behauptete Annie, die in Wahrheit überhaupt nicht mehr mit einem Besuch des Inspectors gerechnet hatte, und verriegelte die Tür.Er war offensichtlich verspätet und in Eile. Ein Mann wie er plante einen Ausflug in die Dorset Street nicht zu so später Stunde."Ich bin aufgehalten worden. Hatte keine Zeit mehr, mich umzuziehen", bestätigte Turner.Annie hievte sich die Treppe herunter und achtete darauf, nicht über ihr Gewand aus bunten Stoffstücken zu stolpern. "Na, immerhin biste nicht in Uniform hier. Wie beim ersten Mal."