Verlag | Elfenbein |
Auflage | 2012 |
Seiten | 50 |
Format | 21,5 cm |
Gewicht | 110 g |
ISBN-10 | 3941184199 |
ISBN-13 | 9783941184190 |
Bestell-Nr | 94118419A |
Ob er sich jemals so ereignet hat, wie die Chronisten uns berichten darüber sind die Historiker uneins. Etwa zwei Dutzend verlässliche Quellen allerdings sprechen von verschiedenen Zügen tausender Kinder, Jugendlicher und Erwachsener aus zumeist ärmlichen Verhältnissen, die im Frühjahr 1212 im Rheinland und in Niederlothringen sowie im Raum Chartres waffenlos und unter der Führung von charismatischen Jugendlichen etwa Stefan von Cloyes und Nikolaus von Köln nach Jerusalem aufbrachen, um das heilige Grab von den Sarazenen zu befreien . Bis ans Mittelmeer gelangten nach einer verlustreichen Überquerung der Alpen allerdings nur wenige Teilnehmer; und wer überlebt hatte, wurde in Pisa oder Marseille als Sklave verkauft.
Marcel Schwobs Annäherung an diese Ereignisse ist in der Literatur des Fin de Siècle einzigartig: In einem multiperspektivischen Verfahren kommen acht, sowohl historische als auch fiktionale, Personen monologisch zu Wort: ein Goliard, ein Aussätziger, die Päpste Inn ozenz III. und Gregor IX., ein gläubiger Muslim sowie die Kinder selbst, die das Geschehen von ihrem jeweiligen Standpunkt aus beschreiben und in philosophisch-theologische Exkurse betten. Auf die Frage, wer die eigentliche Verantwortung für die Katastrophe trägt, finden sich dabei höchst unterschiedliche Antworten.
Leseprobe:
ERZÄHLUNG DES KALANDARS
Ruhm sei Gott! Gelobt sei der Prophet, der mir erlaubt hat, arm zu sein und den Herrn anrufend durch die Städte zu irren. Dreifach gesegnet seien die heiligen Begleiter Mohammeds, die den göttlichen Orden errichteten, dem ich angehöre! Denn ich gleiche ihm, der mit Steinwürfen aus der Stadt gejagt wurde, die so ehrlos ist, daß ich sie nicht nennen will und der in einen Weinberg flüchtete, wo ein Christensklave sich seiner erbarmte und ihm Trauben gab, und als der Tag sich neigte, durch die Worte des Glaubens bewegt wurde. Gott ist groß! [ ] Ich sah vor kurzem eine große Schar Christenkinder, die der Beherrscher der Gläubigen
gekauft hat. Ich habe sie auf der großen Landstraße gesehen. Sie liefen wie eine Herde Hammel. Man sagt, daß sie von Ägypten kommen und daß die Schiffer der Franken sie dorthin gebracht haben. Sie waren vom
Satan besessen und versuchten, das Meer zu überqueren, um nach Jerusalem zu kommen. Ruhm sei Gott! Er
hat nicht erlaubt , daß eine so große Grausamkeit vollendet wurde. Denn die armen Kinder wären unterwegs
gestorben, da sie weder Beistand noch Lebensmittel hatten. Sie sind ganz unschuldig. Und als ich sie sah,
habe ich mich zur Erde geworfen und mit der Stirn auf den Boden geschlagen und habe den Herrn mit lauter
Stimme gelobt. Jetzt will ich erzählen, wie diese Kinder aussahen. Sie waren weiß gekleidet und trugen Kreuze auf ihre Kleider genäht. Sie schienen nicht zu wissen, wo sie sich befanden und schienen nicht traurig zu sein. Ihre Augen sind beständig ins Weite gerichtet. Ich habe eins von ihnen bemerkt, das blind war und von einem kleinen Mädchen an der Hand geführt wurde. Viele haben rotes Haar und grüne Augen. Es sind Franken, die
dem Kaiser von Rom gehören. Sie sind irrgläubig und beten den Propheten Jesus an. Der Irrtum dieser Franken ist offenbar. Denn erstens ist es durch die Schriften und Wunder bewiesen, daß es kein Wort gibt außer dem Mohammeds. Weiter erlaubt uns Gott t äglich, ihn zu rühmen und unseren Lebensunterhalt zu suchen, und er befiehlt seinen Gläubigen, unseren Orden zu beschützen. Auch hat er den Kindern den Scharfblick versagt, denn sie sind ausgezogen aus einem fernen Lande, verführt durch Iblis, und er hat sich nicht offenbart, um sie zu warnen. Und hätten sie nicht das Glück gehabt, in die Hände der Gläubigen zu fallen, so wären sie von den Feueranbetern gefangen genommen und in tiefe Keller eingeschlossen worden. Und diese Verfluchten hätten sie ihrem menschenfressenden, abscheulichen Götzen geopfert. Gelobt sei unser Gott, der alles wohl tut, was er tut und der selbst die beschützt, die nicht an ihn glauben. Gott ist groß! Ich werde jetzt meinen Reis im Laden dieses Goldschmiedes fordern und meine Verachtung des Reichtums verkündigen. Wenn es Gott gefällt, werden alle diese Kinder durch den Glauben gerettet.