Verlag | Beck |
Auflage | 2000 |
Seiten | 360 |
Format | 19,0 x 12,4 x 2,3 cm |
Gewicht | 396 g |
Reihe | Beck'sche Reihe 1402 |
ISBN-10 | 3406459420 |
ISBN-13 | 9783406459429 |
Bestell-Nr | 40645942A |
Noch nach nahezu 3000 Jahren fesselt die Odyssee den unbefangenen Leser mit ihrer bewegenden Abenteurer- und Heimkehrergeschichte, ihren farbigen Szenen, der Breite der Welterfahrung und der erstaunlich gegenwärtigen Psychologie. Diesen literarischen Genuss vertieft Uvo Hölschers Buch durch Erläuterungen zur Erzählkunst, zur Mythologie, zu den Zeitverhältnissen und zum Sinn der Dichtung in einer für alle literarisch interessierten Leser verständlichen Form.
Leseprobe:
"Einfache Geschichten
Die Bemühungen um die homerischen Gedichte sind, seit dem Neubeginn der klassischen Studien in Deutschland gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, nach zweierlei Richtungen orientiert: als die Frage nach der Entstehung und die Frage nach der Form. Wie die eine, die die folgenreichere war, zuerst in Friedrich August Wolfs Prolegomena von 1795 mit einem bis dahin ungehörten Ernst an den Homertext gestellt worden ist, so die andere, fast gleichzeitig, in Goethes und Schillers Abhandlung über epische und dramatische Dichtung. Sie wurde erst 1827 von Goethe veröffentlicht, als längst Wolfs Lehre von der späten schriftlichen Redaktion der Epen aus mündlich umlaufenden Einzelliedern die romantische Wissenschaft beherrschte. Es ist der Entwicklung der homerischen Frage in dem folgenden Jahrhundert nicht günstig gewesen, daß, von einer als exakt sich verstehenden Philologie, die Betrachtung der epischen Form, als einem strengen Begriff von Wissenschaft widersp r echend, an den Rand gedrängt und mehr dem ästhetischen Umgang mit den Texten überlassen blieb. Sie ist erst spät, und eher von außen kommend, in der Fachwissenschaft aufgenommen worden.
Die zweierlei Bemühungen scheinen allerdings einander auszuschließen, indem die Betrachtung der Form das Werk als ein Ganzes, Fertiges und Notwendiges nimmt, während die Frage nach seiner Entstehung, als die eigentlich historische, den Text als ein Werdendes zu fassen sucht, dessen überlieferte Form, gegenüber den Vorstufen, ein Zufälliges oder Willkürliches darstellt.
Aber beide Fragen sind auch aufeinander angewiesen. Die Theorie der sukzessiven Entstehung muß sich, für die angenommenen Vorstufen, Rechenschaft geben über die Möglichkeit der jeweiligen literarischen Form, umgekehrt kommt die Auffassung von einer einmaligen Schöpfung um die Frage nicht herum, wie sich die dichterische Erfindung zur Tradition verhält.
Denn, daß den beiden homerischen Gedichten nicht nur eine lange Praxis aödischer Erzäh lkunst zugrunde liegt, sondern mit dieser auch bestimmte Geschichten, die in ihnen enthalten sind, auch ohne daß man ihrer als Texte im Text habhaft werden kann, liegt auf der Hand.
Für die Ilias läßt sich, als eine in ihr enthaltene oder zugrunde liegende Geschichte, die Erzählung vom Parisurteil fassen, zu welchem, als seine Fortsetzung und unheilvolle Konsequenz, der Raub der Helena, der Rachezug des Gatten und letzten Endes Trojas Untergang gehören. Die Konfiguration der ungleichen Brüder, Hektor und Paris, scheint zu dieser Geschichte zu gehören; damit auch Hektor als einziger Schutz der Stadt, mit dessen Tod sie ihrem Schicksal verfällt. Die lehrhafte Beziehung dieses Endes auf jenen Anfang ist leicht zu fassen. Und aus dem ganzen sind die drei Göttinnen, die Paris zum Schiedsrichter ihres Streits wählten, nicht wegzudenken. Alle diese Momente sind in Szenen und Situationen der Ilias enthalten, obschon Parisurteil und Helenaraub lange vor der Iliashandlung liegen, Trojas Unterga ng am Ende der epischen Erzählung erst noch drohend bevorsteht.
Man hat diese Geschichte eine Novelle genannt; jedenfalls sticht sie mit ihrem sinnreichen Charakter ab von einer anderen, die gleichfalls in der Ilias enthalten ist, der 'Achilleis'. Man denke sich diese beginnend mit der Hochzeit des Peleus und der Thetis und der Geburt des Achilleus, und endend mit seinem frühen Tod: ein Heroenmythos, mit halbgöttlichem Ursprung und tragischem Ausgang. Auch dies eine Geschichte, die die Grenzen der Ilias nach rückwärts und vorwärts weit überschreitet, aber in iliadische Situationen gleichsam eingeblendet erkennbar ist.
Von der Achilleis muß man offenbar eine dritte Geschichte unterscheiden, obschon sie denselben Helden zum Gegenstand hat: die 'Patroklie'. Auch sie eine heroische Geschichte, aber ohne notwendige Beteiligung der Götter: beginnend mit dem Streit um das Beutemädchen Briseis, und endend mit dem Tod des Gefolgsmanns und Freund