Verlag | Verlag am Rande e.U. |
Auflage | 2022 |
Seiten | 140 |
Format | 15,4 x 1,2 x 21,7 cm |
Mit Lesebändchen | |
Gewicht | 332 g |
ISBN-10 | 3903190527 |
ISBN-13 | 9783903190528 |
Bestell-Nr | 90319052A |
Erland Maria Freudenthaler legt mit seinem literarischen Erstling eine fein gesponnene, sprachlich gekonnte Erzählung über die Wirrnisse und Abenteuer des Heranwachsens und die kleineren und größeren Begebenheiten kleinstädtischen Lebens und Erlebens vor.Die Geschichten und Episoden kreisen um die facettenreiche, von großer Zuneigung geprägte Beziehung zweier Brüder und die amüsanten und bewegenden Herausforderungen ihres familiären Alltags.Mit unverstelltem Blick und treffsicherer Ironie ermöglicht uns der Autor vergnügliche und berührende Einblicke in persönliche Erinnerungen von allgemeiner Gültigkeit. (Thomas Baum, Schriftsteller und Drehbuchautor)
Leseprobe:
Im Herbst desselben Jahres, im Jahr des Herrn 1970, hatte ich meine erste Klavierstunde. Zuvor hatte ich schon zwei Jahre Blockflötenunterricht genossen und dabei gelernt, dass man durch den Umstand, begabt zu sein, keine Freunde gewinnt. Ich machte so rasch Fortschritte, dass ich bald nur mehr jede zweite Woche zum Unterricht erscheinen musste. Die Lehrerin unterrichtete nämlich immer zwei etwa gleichaltrige Kinder pro Stunde. Die zweite Schülerin - an deren Namen ich mich gerade nicht erinnere - fühlte sich offensichtlich gedemütigt und kompensierte ihre Wut, indem sie mich regelmäßig biss, kratzte und mir einmal sogar ein Büschel Haare ausriss. Dass ich mindestens einen Kopf größer war als sie und immerhin ein Junge, störte sie dabei nicht im Geringsten. Die Kampfspuren, die ich manchmal vom Musikunterricht nach Hause mitbrachte, haben meine Eltern seltsamerweise niemals angesprochen. Sie kauften mir stattdessen ein Klavier.Ein Pianino. Ein wunderschönes altes, frisch restaurie rtes Instrument, das ich heute noch besitze. Damit waren meine körperlichen Schmerzen mit der Blockflöte vorbei, und ich bekam einen Privatlehrer für mein neues Instrument. Er war ein alter Mann, jedenfalls für uns, mit einem grauen Bart, hatte spitzbübische graue Augen und trug altmodische Kleider, die ähnlich rochen wie die Räume des Höllenkellers im vergangenen Sommer. Er sprach ein seltsames, feines, klares Hochdeutsch, das wir noch nicht zuordnen konnten. Offenbar war er nicht von hier. Er unterrichtete im Wohnzimmer einer kleinen Wohnung in einem grauen Hochhaus, das nicht weit von uns entfernt lag, sodass ich zu Fuß zum Unterricht gehen konnte. Mein Bruder begleitete mich auf dem Weg. Nur sein Ziel war alle zwei Wochen ein anderes als meines. Mein Bruder hatte seit einiger Zeit ebenfalls Blockflötenunterricht genossen, kam allerdings niemals mit Verletzungen nach Hause. Trotzdem waren auch seine Fortschritte bemerkenswert. Daraus zogen unsere Eltern die Schlussfolgerung, zw ei hochbegabte Musiktalente in die Welt gesetzt zu haben, woraus sich zwangsläufig ergab, dass mein Bruder ebenfalls Privatschüler des nach Betonkeller riechenden Greises werden sollte. Was er allerdings von Anfang an zu hintertreiben wusste.