Ismaïl, eine Koryphäe der Neurochirurgie in Rabat, verlässt seine schöne, warmherzige Frau Médée, eine Bildhauerin, Mutter ihrer drei Kinder, nach über dreißig Jahren, um zu Meriem zu gehen, die ihn vor der Grenzkontrolle eines internationalen Flughafens erwartet. Brutal, ohne jede Erklärung, in der Hoffnung, damit den Knoten von Begehren, Verrat und Gewalt, der sie alle zu ersticken droht, so ehrenhaft wie möglich zu zerschlagen.Als Gefangener eines grenzenlosen Begehrens zu der jungen Geliebten, auch sie Neurochirurgin, ist er nun verdammt, alle Höllenkreise der Vergangenheit zu durchlaufen: den Verlust eines erfüllten Familienlebens, die Traumata seiner Kindheit, das Verschwinden des Vaters, eines Oppositionellen, die Krankheit des Bruders, das Webgeflecht der mütterlichen Hoffnung. Gerichthalten über sich als Mann, der zu größter Feigheit und noch größerer Liebe fähig ist. In einer atemberaubend schönen Sprache lässt sich Yasmin Chami ein in die Körper der Männer und der Fraue n, zeichnet ein dramatisches Bild von Marokko in den letzten 60 Jahren, geprägt von Repression und Gewalt. Doch mit zärtlichem Blick auf ihre Figuren und die Schönheit der Landschaften. Das Schicksal eines Landes, von den Frauen auf Händen getragen, während die Männer sich in Utopien ergehen, im ewigen Wettlauf um die Macht.
YASMINE CHAMI, 1967 in Casablanca, wo sie lebt. Studium der Philosophie an der Ecole Normale Supérieure in Paris, Professur in Anthropologie. 1999 ihr erster Roman Cérémonie (Actes Sud). Nach der Geburt ihrer Zwillingssöhne 2001 in New York kehrt sie zurück nach Marokko, wo sie in Casablanca das Museum Villa des Arts leitet; sie gründet eine Radio-Film-Produktionsgesellschaft, arbeitet viele Jahre als TV-Redakteurin über Themen zur marokkanischen Gesellschaftsentwicklung und Urbanisierung. Wie in ihrem Roman Tief ins Fleisch stellt sie dabei immer wieder die enorm politische Frage nach den Geschlechterverhältnissen in der marokkanischen Gesellschaft; und nicht zuletzt die: Was macht das Patriarchat mit den Männern eigentlich? Alle ihre Romane spielen in Marokko, zuletzt Casablanca Circus, 2023; sie schafft mit ihrem ganz besonderen, für Mythologie und religiöse Strukturen offenen Blick und dank ihrer Verankerung in der kollektiven Psyche, den ererbten Kulturen, den Orten eine wir klich universale Literatur, vergleichbar mit der von Nadine Gordimer (L'écriture et l'existence). Für ihren Roman Mourir est un enchantement erhielt Yasmine Chami 2017 den Arabischen Literaturpreis in der Kategorie Sonderpreis (Institut du monde Arabe). Seit über dreißig Jahren widmet sie sich eben diesem Interesse und hat inzwischen mehr als hundert Bücher - überwiegend Romane aus Frankreich, der Schweiz und Haiti - ins Deutsche übersetzt. Zu den größten und schönsten Herausforderungen gehören Romane von Albertine Sarrazin, Virginie Despentes, Véronique Olmi und Véronique Bizot (zusammen mit Tobias Scheffel).Um ihr Bedürfnis nach Kommunikation und Weltverbesserung zu befriedigen, organisiert sie im Rahmen der Weltlesebühne e.V. Übersetzerveranstaltungen und Seminare, übernimmt Mentorate für junge Übersetzerinnen und engagiert sich als überzeugte Europäerin in der Seebrücke e.V. für offene Häfen und Seerettung auf dem Mittelmeer.
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